«Gehorsam und Autorität»
Von Philipp Gut und Markus Somm
Bernhard Bueb war Rektor des deutschen Elite-Internats Salem und schrieb den Bestseller «Lob der Disziplin». Der Pädagoge predigt Härte, Liebe und Regeln. Die Lehren der sechziger Jahre hält er für überholt.
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«Der Pädagoge ist wie ein Schiffer: Neigt sich das Schiff nach links, neigt er sich nach rechts und umgekehrt»: der deutsche Autor Bernhard Bueb. Bild: Mark Niedermann |
Herr Bueb, das Interesse an Ihrem Buch ist riesig, bereits ist die zehnte Auflage erschienen. Wie erklären Sie sich das?
Es besteht ein unglaubliches Bedürfnis, wieder eine gewisse Sicherheit in der Erziehung zu bekommen. Die letzten Jahrzehnte waren bestimmt von Diskussionen, Umstürzen, Neuerfindungen und Unklarheit. Einig waren sich viele nur in einem: Man darf nicht mit Autorität diszipliniert erziehen. Nun ist das Leiden im Land gross, weil es hinten und vorne nicht geht. Daher sind die Erzieher glücklich, dass einer auftritt und sagt: «Ihr dürft!» Die Erklärung für den Erfolg des Buchs ist, dass es wie ein Tabubruch wirkt.
Woran liegt es, dass Autorität als problematisch gilt?
Wir Deutschen sind eine beschädigte Nation. Mit «Disziplin» und «Autorität» beschwört man hier die braune Vergangenheit. In einigen Zeitungsartikeln kam das auch zum Ausdruck. «Kein Wunder, in Mecklenburg-Vorpommern siegt die NPD, Frau Herman schickt die Frauen in die Küche, wir sehen wieder Fahnen bei Weltmeisterschaften und der Bueb fordert Disziplin», stand in der Zeit.
War das schwer zu ertragen?
Nein, weil es so töricht ist.
Die Zustimmung war grösser als die Ablehnung?
Die Zustimmung beträgt etwa neunzig Prozent. Und sie kommt vor allem aus der Praxis. Widerspruch kommt erstens von der Psychotherapie. Die haben die Auffassung, dass man nur durch Liebe Kinder erzieht. Zweitens von den Altlinken. Das sind ja die neuen Konservativen, die an den Auffassungen der siebziger Jahre festhalten und nicht davon loskommen. Drittens gibt es welche, die behaupten, ich wolle das muffige Kleinbürgertum der Adenauer-Zeit wiederherstellen. Das sind nun aber keine sachlichen Einwände, im Gegensatz zu den Psychotherapeuten, die nicht ideologisch argumentieren.
Die Schweiz und Amerika haben keine Nazivergangenheit und trotzdem ähnliche Probleme.
Das verwundert mich. Ich glaubte, in der Schweiz sei die Welt noch in Ordnung. Als ich dort einen Vortrag hielt, sagten alle: Nein, nein, das sei überhaupt nicht der Fall, sie hätten genau die gleichen Probleme. Ein italienischer, ein spanischer und ein koreanischer Verlag haben die Rechte an meinem Buch erworben – auch dort ist die Lage offenbar ähnlich.
Die 68er wurden so lange akzeptiert, weil sie durch ihren Kampf für die Vergangenheitsbewältigung ein moralisches Fundament hatten. Die antiautoritäre Erziehung aber ist ein Phänomen der westlichen Welt überhaupt.
Ihren Ursprung hat diese Erziehung in der westlichen Psychologie. Dass Disziplin, Gehorsam und Autorität so in Verruf gekommen sind, ist aber schon spezifisch deutsch. In der Schweiz wird man sich nicht so sehr über den Begriff «Disziplin» aufregen, sondern über undisziplinierte Kinder. Wenn in Deutschland jemand in einer Talkshow von Disziplin spricht, entschuldigt er sich gleich dafür. Ein Missverständnis: Denn Disziplin ist zunächst völlig neutral. Ihr Wert richtet sich nach dem Zweck, dem sie dient.
Wie stark ist die Disziplin zerfallen?
Sie finden viele Eltern und Lehrer, die dauernd damit beschäftigt sind, ein Minimum an Ordnung und selbstverständlichen Sekundärtugenden einzufordern. Man muss nicht immer über alles diskutieren. Genau das aber tun wir. Jeden Morgen wird vom Lehrer neu begründet, warum es wichtig ist, pünktlich zu sein, oder warum man die Sachen mitbringen muss. Wir erleben in Salem derzeit einen «clash of civilizations», weil zwölf angelsächsische Lehrer bei uns arbeiten. Diese Angelsachsen schütteln nur den Kopf. Sie sagen: «Ihr Deutschen stellt eine Regel auf und macht gleich ein paar Ausnahmen. Ihr psychologisiert dauernd. Und ihr tretet nicht selbstbewusst als Autorität auf, die Zweifel sieht man euch an.»
Warum ist Disziplin so wichtig?
Weil sie die Grundlage aller Kultur ist. Die Anthropologie bezeichnet den Menschen als «nicht festgestelltes Tier», das heisst als nicht instinktgeleitet. Alles, was wir tun, ist eine Folge unserer Bildung, unserer Eigeninitiative, unserer Freiheit. Dazu braucht es Disziplin. Die Disziplin, die der Vogel aufbringt, um sein Nest zu bauen, ist in ihm drin. Wir müssen die Disziplin lernen. Wenn wir irgendetwas zustande bringen wollen, brauchen wir eine Anstrengung – ob nun Künstler oder Helfer der Menschheit; selbst Verbrecher brauchen Disziplin.
Inwiefern steht Disziplin in einer Spannung zu Freiheit und Demokratie?
Zunächst mal wird unter Freiheit zu häufig nur Unabhängigkeit verstanden, das tun und lassen zu können, was man will. Freiheit heisst aber eigentlich Selbstbestimmung, also die Fähigkeit, sich ein Ziel zu setzen, dieses Ziel in Übereinstimmung zu bringen mit einer Moral und es dann auch zu erreichen. Diese Fähigkeit erwirbt man erst nach vielen Stadien der Selbstüberwindung. Kleinkinder sind zunächst gar nicht zu Selbstdisziplin fähig. Sie sind liebenswerte kleine Barbaren, die man aus Liebe zwingen muss, dies und jenes zu tun. Vor allem müssen sie verzichten lernen. Der gute Erzieher muss immer von neuem abwägen, wie viel Zwang er ausübt und wie viel Freiheit er gibt. Natürlich hängt die Freiheit vom Alter der Kinder ab. Im Spiegel wurde ich gefragt, ob ich kein Vertrauen in Kinder habe. Die Antwort: Ich habe ein altersgemässes Vertrauen. Sexualität etwa braucht eine bestimmte Reife. Und in meinen Augen auch die Demokratie.
Was ist 1968 genau passiert? Wie wichtig ist dieses Datum für den Prozess des Verfalls von Autorität und Disziplin?
Ich glaube, dass vielfach die 68er nur etwas gestossen haben, was bereits im Fallen war. Sonst wäre es ihnen ja auch nicht so gelungen. Die 68er haben eigentlich nur gesagt: «Jetzt bekennt euch mal zur Wahrheit! Ihr haltet doch bloss etwas aufrecht, was innerlich hohl ist.» Diese Hohlheit war in Deutschland eine Folge der Tabuisierung der Nazizeit. Es war ja die Generation der Täter, die versuchte, neu aufzubauen, und die dadurch Kraft bekam, dass sie einfach alles verdrängt hatte. Im Schulunterricht kamen Hitler und die KZ-Geschichten praktisch nicht vor. Ich habe erst in der Studentenzeit in den Sechzigern – mit dem Auschwitz-Prozess – begriffen, was da eigentlich los gewesen war. Die 68er haben dann, wie man’s halt in Deutschland macht, gründlich und fundamentalistisch alles über Bord geworfen. An unserer Schule wurden zum Beispiel beinah alle Rituale abgeschafft.
Was waren das für Rituale?
Das fing mit der Morgenandacht an. Oder: dass man aufsteht, wenn der Lehrer in die Klasse kommt. Beim Mittagessen wurde die Schweigezeit abgeschafft.
Macht es die Kinder wirklich schlecht, wenn sie beim Essen sprechen dürfen?
Es ist unglaublich beruhigend für alle Seiten, wenn beim Essen in so einer grossen Gemeinschaft fünfzehn Minuten Ruhe herrscht. Wir haben das vor zehn Jahren bei den Kleinen eingeführt, und alle fanden das wunderbar. Diese Rituale sind alte Traditionen, die ja nicht nur töricht sind. Doch es wurden auch Dinge zu Recht abgeschafft, etwa die ganze Verlogenheit in der Sexualität. In den sechziger Jahren durften Unverheiratete in einem Hotel noch nicht übernachten. Oder das autoritäre Gehabe von Lehrern und Professoren wurde verhöhnt, die wie Halbgötter thronten. Sehr segensreich ist auch, dass man Kinder nicht mehr demütigt. Inzwischen ist ja auch in England die Prügelstrafe abgeschafft.
Hätten Sie das gekonnt, zu prügeln?
Nein, das hätte ich nicht fertiggebracht. Ich halte es für prinzipiell verboten und unnötig, Kinder zu schlagen. Solche Veränderungen waren aber eigentlich nur Nebenerscheinungen. Die ganze 68er Bewegung war im Grunde marxistisch inspiriert, mit dem Ideal einer kommunistischen Gesellschaft. Das hatte ja auch viel Sympathisches. Die soziale Gerechtigkeit als grosse Idee, das würde man sich heute wünschen. Man hat sie aber nicht durchgehalten: Viele Linke, die Joschka Fischers und Otto Schilys, sind ja dann alle ganz ordentlich wieder nach rechts gerückt.
Die 68er haben das disziplinarische Regime der fünfziger Jahre noch erlebt, deswegen waren sie dann auch sehr disziplinierte Revolutionäre.
Wie der Grossteil der Revolutionäre waren sie die Elite. Sie waren Wohlstandskinder, nicht Arbeiterkinder. Die immer noch beste Beschreibung der damaligen Studenten stammt vom französischen Regisseur Jean-Luc Godard: Er hat sie die «Kinder von Karl Marx und Coca-Cola» genannt.
Haben die heutigen Probleme nicht auch mit dem Wohlstand zu tun? Wenn die Ressourcen knapp sind, ist die Erziehung einfacher. Dann kann man sagen: Wir müssen teilen, wir müssen uns bescheiden.
Es ist immer schwieriger gewesen, als wohlhabender Mensch Kinder grosszuziehen. Armut ist auch schwierig. Aber finanziell beschränkte Verhältnisse haben etwas unglaublich Ordnendes. Wenn ich mir täglich überlegen muss, ob ich dieses oder jenes anschaffen soll, sind das hilfreiche und disziplinierende Überlegungen. Reiche Leute müssen viel mehr erziehen.
Wie ist das denn in Salem? Da haben Sie auch Kinder begüterter Eltern. Gibt es Erscheinungen der Dekadenz, die im Wohlstand begründet sind?
Gar kein Zweifel. Die normale Folge ist, dass die Anstrengungsbereitschaft sinkt. Sie kommen in ein gemachtes Nest, warum sollen sie dann noch arbeiten? Deswegen ist die Erziehung in diesen Häusern so wichtig. Und deswegen waren auch die traditionellen reichen Häuser sehr streng und haben ihre Kinder so erzogen, als ob sie nicht reich wären. Sie wussten: Das ist die einzige Chance, damit aus den Kindern etwas wird.
Was machen Sie, wenn die Eltern die Kinder nicht erziehen?
Die reichen Eltern handeln Gott sei Dank noch vielfach verantwortungsvoll, und zwar häufig, wenn sie Unternehmer sind. Diese haben ein ganz anderes Ethos und Verantwortungsgefühl als Eltern, deren Reichtum anonym bleibt. In der Schule führt der wichtigste Weg über die Gleichheit. Deshalb haben wir vor zwanzig Jahren begonnen, eine sehr offensive Stipendienpolitik zu betreiben – für leistungsorientierte junge Menschen, die wir aber danach aussuchen, dass sie auch farbige Persönlichkeiten sind. Inzwischen spielen diese Stipendiaten an der Schule eine grosse Rolle. Die sagen dann – manchmal muss man aufpassen, dass sie nicht zu pharisäisch werden –: «Ich komm nach Harvard, du mit deinem Geld nicht.» Das wirkt nachdrücklich auf Schnösel.
Sollten die Hochschulen ihre Studenten aussuchen dürfen? In der Schweiz ist dies ein Politikum.
Ich würde an jeder Universität Eingangsprüfungen machen. Allerdings würde ich sie nicht nur an die Noten binden, sondern auch an Charaktereigenschaften.
Was kostet ein Studienplatz in Salem?
2200 Euro im Monat, also mehr als 26000 Euro im Jahr.
Sind die angelsächsischen Privatschulen eine ernsthafte Konkurrenz für Sie?
Unsere einzige wirkliche Konkurrenz liegt in England. In Deutschland machen wir seit dreissig Jahren einen Fehler, den ich immer wieder angemahnt habe. Die Eltern sagen: «Wenn du dich beim Mittagessen schlecht benimmst, kommst du ins Internat.» In England ist es umgekehrt. Dort heisst es: «Wenn du dich nicht benimmst, darfst du nicht ins Internat.» Die Deutschen begreifen das Internat als Reparaturwerkstätte, nicht als Fortsetzung und Ergänzung einer gelungenen Erziehung in der Familie. Daher haben wir hierzulande nur ganz wenig Konkurrenz.
Und in der Schweiz?
Noch vor dreissig Jahren waren Schweizer Internate Konkurrenten. Heute hat sich aber die Konkurrenz, wie gesagt, in angelsächsische Länder verlagert.
Wird es in Zukunft mehr Privatschulen geben?
Ja, in Deutschland haben sie eine unglaubliche Konjunktur. Es liessen sich vom Zulauf her im Augenblick reihenweise Internate und Tagesschulen gründen. Im Moment gibt es etwa 6 Prozent Privatschulen, in Frankreich sind es 25, in den Niederlanden 50 Prozent.
Was entgegnen Sie Kritikern, die sagen: «Wir wollen keine angelsächsischen Verhältnisse. Wir wollen öffentliche Schulen, die die Chancengleichheit garantieren?»
Jede gute Schule versucht, die Chancengleichheit durch Stipendien herzustellen. Wir sollten ausserdem von den Angelsachsen lernen, dass Bildung und Erziehung nicht immer ausschliesslich eine soziale Leistung des Staates sind, sondern auch eine private wirtschaftliche Investition. Das spricht sich in Deutschland langsam herum: dass man ein kleineres Auto kauft und dafür die Bildung finanziert.
Ist der Widerstand gegen Privatschulen gross?
Vor zehn Jahren gab es ausgesprochenen Widerstand aus den Schulverwaltungen. Inzwischen hat sich das radikal geändert. Selbst die SPD fördert Privatschulen, und sie gelten vielen als Vorbilder. Dieser Umschwung hat auch damit zu tun, dass man nicht mehr alles vom Staat erwartet – weil er zahlungsunfähig ist.
Leidet das Bildungswesen nicht auch an einem übergrossen Reformeifer? Wahrscheinlich ist es ein Irrtum, zu meinen, dass in der Erziehung immer wieder alles neu erfunden werden müsse.
Das stimmt, es gibt in der Pädagogik seit 2000 Jahren eigentlich nichts wirklich Neues. Mit Ausnahme der Aufklärung: dass man mehr auf die Autonomie des Einzelnen achtet. Seither schwankt man immer hin und her. Der Pädagoge ist wie ein Schiffer: Neigt sich das Schiff nach links, neigt er sich nach rechts und umgekehrt. Nach links, das heisst: Wir haben die Kinder mit zu viel Liebe und zu wenig Disziplin erzogen in den letzten zwanzig Jahren. In zwanzig Jahren wird einer dann ein Buch mit dem Titel «Lob der Liebe» schreiben und sagen, ich hätte es zu weit getrieben. In der Pädagogik geht es immer um das rechte Mass, die Mitte. Damit meine ich nicht das Mittelmässige. Es ist eine Gratwanderung zwischen verschiedenen Polen: zwischen Zwang und Freiheit oder zwischen Vertrauen und Kontrolle oder Disziplin und Liebe.
Sie sind gegen Rezepte, trotzdem geben Sie Ratschläge für die Erziehung. Was zeichnet gute Pädagogen aus?
Sie müssen einen Sinn für Prioritäten haben und wissen: «Wo muss ich das Kind in den Arm nehmen, und wo muss ich einfach sagen: ‹Hier gibt’s eine Strafe›?» Wenn das Kind unerlaubt fernsieht, muss man eben sagen, drei Tage wird dieser Kasten dichtgemacht. Das muss das Kind vorher wissen, das muss man vereinbaren. Und dann muss man auch nicht diskutieren. Hier ist schematisches Handeln erlaubt, sogar geboten – bei Problemen wie Zimmer aufräumen oder Papierkorb leeren. Aber dann gibt es kompliziertere Fragen: Wie gestalte ich meine Freundschaften? Wann darf ich in die Disco gehen? Ab wann darf ich ein Glas Wein trinken? Darüber muss natürlich sehr wohl diskutiert werden, da hilft kein Schema mehr.
Uns scheint, in unserer Generation macht man sich zu viele Gedanken über Regeln und das Formale. Dabei ist es doch primitiv. Wenn man gewisse Kleiderordnungen einhält, kann man immer noch progressiv sein.
Solche einfachen Ordnungen geben Sicherheit. Wenn sich ein Jugendlicher bewirbt und nicht überlegen muss: «Wo tu ich meine Hände hin, oder wie spreche ich mein Gegenüber an?», dann hat er ein Problem schon mal los. Wir haben auf der Mittelstufe vergangenes Jahr den Schulanzug wieder eingeführt – auf der Unterstufe galt er immer –, und nach einem Jahr sind alle hochzufrieden. Niemand fühlt sich deswegen in seiner freien Entwicklung eingeschränkt.
Ist die Schuluniform nicht ein Nebenschauplatz?
Sie ist einer, aber es erleichtert das Leben, wenn man für Kleidung keine Energien und Zeit investieren muss. Genauso ist es mit den Drogentests: Seitdem wir diese eingeführt haben, ist das Problem kein Thema mehr.
Wie laufen diese Tests ab?
Jeden Abend bestimmt der Leiter der Mittel- und Oberstufe per Los, wer am nächsten Morgen um halb sieben eine Urinprobe abgeben muss. Die geht dann ins Labor, und wenn sie positiv ist, muss der Betroffene sofort die Schule verlassen.
Hatten Sie denn früher grosse Probleme?
Wir kamen damit nicht mehr zurecht. Deswegen haben wir vor zehn Jahren diese Tests eingeführt.
Welche Drogen waren das?
Wir machen jedes Mal eine Probe auf fünf Elemente, haben aber noch nie etwas anderes als Hasch gefunden – was uns verwundert hat. Die Schüler akzeptieren die Tests zu hundert Prozent.
Wie oft wird einer von der Schule gewiesen?
Inzwischen maximal einer pro Jahr, in den ersten Jahren häufiger. Die Schüler wissen ganz klar: Das hat keinen Sinn. Aus demselben Grund haben wir auch Alkoholtestgeräte eingeführt.
Ein neues Problem sind die Handys, zum Beispiel mit Pornografie.
Wenn es möglich wäre, würde ich ein Kontrollprogramm installieren lassen und bei Übertretungen sehr scharf reagieren. Ich habe kürzlich eine Hauptschule in Tübingen besucht (Hauptschulen sind in Deutschland die Schulen der vergessenen Kinder), die von einer Firma in der Nähe immer die ausrangierten Computer erhält. Dort haben sie Programme eingebaut, die entdecken, wer Gewalt und Porno sieht. Wenn ein Jugendlicher erwischt wird, muss er bis zu vier Wochen die Schule verlassen. Die Schüler sind so gern an dieser ausgezeichneten Schule, dass zeitweise Suspendierung die grösste Strafe ist. Der Leiter der Schule sagt: «Seit wir diese Strafe eingeführt haben, kommt der Missbrauch praktisch nicht mehr vor.» Handys sind an dieser Hauptschule verboten.
Abgesehen von der fehlenden Disziplin: Wo machen wir beim Erziehen die grössten Fehler?
Die schlimmste Sünde in der Erziehung ist, keine Zeit zu haben. Das ist sehr verbreitet heute – wenn Sie bei den Kindern irgendetwas erreichen wollen, dann müssen Sie sich Zeit nehmen.
Unser Eindruck ist, dass die meisten Eltern sich fast zu intensiv um ihre Kinder kümmern. Sie lassen ihnen kaum mehr Freiraum, der Nachwuchs wird überbetreut.
Das ist eine andere Art von Zeit. Die Überbetreuung, vor allem durch die Mütter, weil nur noch ein Kind da ist oder zwei, ist sehr bedrohlich, weil das bei den Kindern zu Egoismus und einer Anspruchshaltung führt. Deshalb bin ich überzeugt, dass man die Kinder ab und zu in die Gemeinschaftserziehung geben muss – um sie den Müttern zu entziehen, die es ja gut meinen, aber sie verwöhnen. Viele Kinder gewinnen den Eindruck: Die Mutter ist meine Dienerin, die fährt mich in die Klavierstunde und holt mich vom Ballett ab.
Das erinnert ein wenig an alte linke Überzeugungen, die alle darauf abzielten, die Kinder der reaktionären Familie zu entziehen.
Ich will die Familie keineswegs angreifen. Die Familie ist das Fundament aller Erziehung; die Erziehung in der Gemeinschaft sehe ich als Ergänzung und Fortsetzung einer gelungenen Erziehung in der Familie. Die Familie wird wieder sehr bedeutend werden.
Warum?
Die schützende Funktion der Familie ist ein hoher Wert, den wir verloren haben. Doch die jungen Leute beginnen ja wieder zu heiraten. Den Menschen wird klar, dass die Kinder einen Anspruch auf beide Eltern haben, dass sie den Schutz der Familie benötigen.
Welche Folgen hat es, dass in den Schulen fast nur noch Frauen unterrichten?
Das ist ein grosses Problem, insbesondere für die Jungs.
Inwiefern?
Jungen brauchen Männer als Vorbilder. Oft werden sie allein von der Mutter erzogen und begegnen im Kindergarten und in der Primarschule nur Frauen. Entweder erhalten die Buben ein negatives Frauenbild, weil sie zu viel mit Frauen zu tun haben. Oder sie können die spezifische Rolle des Mannes nicht lernen. Männer sollen ja eine andere Rolle haben als Frauen – was zwar lange Zeit bekämpft wurde, aber das ist natürlich Unsinn. Es fehlen ihnen die Vorbilder, der Vater, der Lehrer. Das führt zu Orientierungslosigkeit.
Wenn ein sehr intelligentes Kind schlecht erzogen wird: Wie kommt das heraus, hat es trotzdem Erfolg?
Gute Erziehung führt zu einem ausgewogenen Selbstwertgefühl, also zu der Fähigkeit, ja zu sich sagen und dadurch anderen mit Achtung begegnen zu können. Wenn ein intelligentes Kind diese Fähigkeit nicht entwickelt, wird es vielleicht beruflich Erfolg haben, aber menschlich defizitär bleiben.
Kann man auf diese Weise ein Kind ruinieren?
Auf jeden Fall. Das Schlimmste ist Nicht-Erziehung, das kann zu katastrophalen Folgen führen. Ich halte die christliche Auffassung des Menschen immer noch für die realistischste: Der Mensch ist eine gefallene Natur. Er hat gute Anlagen, aber auch böse. Aufgabe der Eltern und Lehrer ist es, die guten zu stärken und die bösen zurückzudrängen. Aus diesem Grund ist Erziehung entscheidend. Denn sich selbst lieben zu lernen, sich mit allen Stärken und Schwächen zu akzeptieren, wappnet auch gegen Verführungen zu Neid und Eifersucht. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», heisst es einleuchtend.