VON REDAKTIONSMITGLIED ULLY GÜNTHER
Die Welt der Kinder, von der die Erwachsenen nichts ahnen, die sie nie zu Gesicht bekommen, von der sie nichts wissen (wollen), sieht folgendermaßen aus: Ein Mann, blaue Augen, noch jung, trotz seines lichten blonden Haars, liegt am Boden. An seiner Kehle sitzt die Klinge eines Schlachtermessers.
Das ist das erste Bild. Dann läuft das Video. Die Klinge fährt in den Hals des jungen Mannes, Blut sprudelt, der Betrachter vernimmt gurgelnde Geräusche. Nach dem Tod des blonden Mannes wird der nächste exekutiert, mit einem Beil wird sein Kopf abgehackt. Dann endet das Filmchen, keine Fiktion aus Hollywoods Horrorkabinett, die Kinder wissen das genau. Das Video diente einmal einem politischen Zweck, als es aufgenommen wurde im Tschetschenienkrieg als Protest gegen die russische Invasion. Das wissen die Kinder nicht. Seit 1999 kursiert dieses Video auf den Pausenhöfen unserer Schulen, wird dort weitergereicht über die Bluetooth-Schnittstellen der Mobiltelefone, die Verbreitung ist unkontrollierbar geworden – ein Drittel der Kinder und Jugendlichen kenne solche und ähnliche Gewaltdarstellungen, nach neueren Studien seien die Zahlen noch höher, sagen Experten. Seit Jahren ist das Video aus dem Tschetschenienkrieg der Renner auf den Schulhöfen – ein Drittel – auch in Thüringen, behauptet eine Stichprobe, nicht repräsentativ natürlich.
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Bilder, die Profis kaum verkraften
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In Meiningen, in diesem golddurchwirkten Festsaal des Theaters, sitzen über 100 Menschen vom Fach. Die Europaflagge prunkt vorm ganz in Weiß gehüllten Podium, heitere Blumengestecke zwischen den Mikros, ein wundervoller Rahmen für ein blutgetränktes Thema: „Das Internet als Forum für Jugendgewalt: Herausforderung für Politik, Jugendarbeit, Eltern und Schule in Europa.“ Staatssekretäre, Professoren, Europa-Politiker sitzen hier in dichter Reihe, die meisten haben ihr Handy an, man könnte ihnen allen problemlos das Video aus dem Tschetschenienkrieg aufs Handy schicken. Schöne blutige Grüße – Absender unbekannt!
Es gibt nicht nur dieses eine Video, es gibt „Tausende solcher Videos“: Der Medienpädagoge Friedemann Schindler leitet „jugendschutz.net“, eine vom Bund, den Landesmedienanstalten und EU-Mitteln finanzierte Einrichtung, die das Internet überprüft auf Verstöße gegen den Jugendschutz und die Anbieter drängt, die Bestimmungen des Jugendschutzes einzuhalten. Die Rechercheure aus Schindlers Team sind Blut gewohnt, es gibt alles: Das Fernsehen zeigte, wie am 11. September die Menschen sich aus den Twin Towers in New York stürzten, die Fotos, die übers Internet auf die Handys gelangten, zeigten, wie die Leichen unten aussahen – nach dem Aufprall. „Die Kinder, die solche Bilder oder Videos sehen, werden immer jünger, die Darstellungen immer brutaler, so sieht die Realität aus“, sagt Schindler. Selbst für seine abgebrühten Rechercheure sei das Video aus dem Tschetschenienkrieg kaum verkraftbar gewesen. Die Rechercheure von „jugendschutz.net“ werden psychologisch betreut, die Kinder bleiben mit den Bildern, die sich so epidemisch verbreiten wie ein Grippevirus, allein.
Wie fühlt sich ein Mädchen mit 14 Jahren, dem gerade ein Unbekannter eine brutale Vergewaltigung aufs Handy geschickt hat, wenn es das nächste Mal am Abend nach der Klavierstunde nach Hause laufen muss? Jedes zweite Kind zwischen sechs und 14 Jahren in Deutschland besitzt ein Handy, 92 Prozent aller Jugendlichen haben eins.
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„Riesige Gefahren“ durch CCC
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Sie kenne Mädchen, denen Vergewaltigungsszenen zugeschickt worden seien, berichtet Verena Weigand, die Leiterin der Stabsstelle KJM (Kommission für Jugend- und Medienschutz) an der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, nicht nur ein Mädchen, viele Mädchen. CCC heißt der Gencode des Virus: Content, Contact, Commerce. Hinter den drei „C" verbergen sich „riesige Gefahren“, urteilt Verena Weigand. „Content“, der Inhalt, wir haben ihn beschrieben. „Contact“, anonyme Verabredungen in Chats, über SMS oder direkte Anrufe, bei denen Kinder oder Jugendliche in der Realität plötzlich jemandem gegenüberstehen, der gar nicht so nett ist wie der Onkel aus der virtuellen Welt. „Commerce“ – die Schuldenfalle Handy: Sie hätten probeweise bei einem Anbieter, der übers Fernsehen Werbung macht, Klingeltöne abonniert, der hauseigene Jurist habe „größte Mühen gehabt, sich wieder aus dem Abo zu lösen“.
Die Bundesregierung hat eine Studie in Auftrag gegeben, um den Umgang von Kindern mit neuen Medien zu untersuchen. Eigentlich sollte die Untersuchung im Herbst 2007 geruhsam abgeschlossen werden, aber die ersten Ergebnisse waren derart erschreckend, dass umgehend ein „Jugendmedienschutzsofortprogramm“ ausgerufen wurde. „Wir sind schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass wir nicht bis Herbst warten können“, sagt Gerd Hoofe, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium. Weltweit gäbe es 3000 rechtsextreme Websites, ein Drittel davon aus Deutschland. Dort werde Gewalt propagiert, „in einer Weise, die weit über das hinausgeht, was wir uns vorstellen können“. 500 rechtsextreme Nazisites hat „jugendschutz.net“ seit 2001 aus dem Netz löschen lassen, dennoch nähmen „problematische Inhalte“ zu, die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung steige rapide, sagt der Staatssekretär.
Schindler klappt den Laptop auf: Die Website zeigt ein Foto von Leichenbergen aus einem Konzentrationslager, „Ei, das macht so Spaß ...“ steht darüber. Eine Verhöhnung der Opfer des Holocaust, „die Tauschbörse zeigte keine Bereitschaft, das aus der Datenbank zu löschen“, berichtet Schindler.
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Wortreicher Offenbarungseid
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Die europäische Politik liefert auf dem Meininger Podium wortreich ihren Offenbarungseid. Ruth Hieronymi, Mitglied des Europaparlaments, berichtet emphatisch, seit 1998 gäbe es eine gemeinsame EU-Empfehlung zum Jugendschutz im Internet, an einer Richtlinie (Gesetz) für fernsehähnliche audiovisuelle Mediendienste würde gefeilt. Wie ein Pfeil kommt die Frage aus dem Publikum: Wie es um die Leugnung des Holocaust stünde, die in Deutschland strafbar ist? Die kriege man in die EU-Richtlinie nicht rein, antwortet Frau Hieronymi, es gebe keinen Konsens darüber in Europas 27 Staaten. So entlarvt sich die Tragödie Europas – eine einzige Frage genügt.
Natürlich gibt es auch keinen Konsens über Pornographie, lediglich einen über Kinderpornographie. Es referiert noch Horst Forster von der Generaldirektion der EU-Kommission für Medien und lobt sehr die 16 Mobilfunkanbieter, die in Brüssel vor kurzem eine Rahmenvereinbarung für den Schutz Minderjähriger unterzeichnet hätten: „Ein gutes Beispiel für die Selbstregulierungsfähigkeit der Industrie“. Man werde die Umsetzung „sorgsam beobachten und falls nötig zum gegebenen Zeitpunkt geeignete Maßnahmen“, und so fort ...
In Deutschland beinhalte der Mobilfunkkodex der Anbieter, „weniger als das, was ohnehin gesetzlich vorgeschrieben ist“, klärt Friedemann Schindler auf. Kodex bedeute, „dass jemand, die Verantwortung, die ihm gesetzlich ohnehin vorgeschrieben ist, auch wahrnehmen will“, dolmetscht Verena Weigand. Sie fordert, dass Handys bei Auslieferung so konfiguriert werden, dass nicht alle Funktionen freigeschaltet seien, sondern Eltern überlegen, was sie für ihr Kind freischalten und was nicht. Sie fordert Sperren, Filter, Codes, die nur Eltern zugänglich sind. „Der Anbieter muss den Zugang zu solchen Inhalten erschweren, ihn am besten unmöglich machen.“
Da will sich jetzt doch mal der Vertreter des Bundesverbands der Informationswirtschaft ins Gespräch einbringen. Solche Sperren, sagt Guido Brinkel, ein junger Mann mit einem Doktortitel, seien also keinesfalls sinnvoll, sie würden „die Medienkompetenz“ der Kinder und Jugendlichen schwächen – soviel zur Selbstregulierungsfähigkeit der Industrie. „Sagen Sie gleich, dass es ihnen nur um finanzielle Interessen geht“ – Verena Wiegand ist eine couragierte Frau. Jedes Gespräch, jede SMS, jedes heruntergeladene oder versendete Video – es bringt Geld, Money, Cash, egal was darauf zu sehen ist.
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Ein Selbstmord aus Scham
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Ein polnischer Professor trägt vor, wie vor fünf Monaten vier Schüler die kurze Abwesenheit des Lehrers nutzten, um ein Mädchen vor der Klasse nackt auszuziehen und eine Vergewaltigung zu simulieren. Das Handy lief, das Mädchen erhängte sich am nächsten Tag, aus Scham – „sie war sich bewusst, dass das Video ihre Entwürdigung“ vor die Augen der ganzen Schule, ihres Wohnumfeldes oder noch viel weiter getragen hätte, sagt der Professor aus Krakau.
Wenn Friedemann Schindler von jugendschutz.net seinen Laptop aufklappt, sind Bilder und Videos von bestialischer Brutalität zu sehen. Solche Bilder kursieren auf den Handys der Schulkinder. - FOTO: ari
Was Eltern tun können<
Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz rät:
Sprechen Sie mit Ihrem Kind über seine konkrete Handynutzung. Fragen Sie, welche Funktionen besonders reizvoll und „angesagt“ sind. Sprechen Sie konkret Problembereiche an: Fragen Sie, ob Ihr Kind bereits problematische Bilder oder Filme gesehen oder davon gehört hat.
Klären Sie Ihr Kind über die konkreten Gefahren und die Rechtslage auf, versuchen Sie Ihm die ethisch-moralischen Grundsätze hinter den gesetzlichen Regelungen zu erläutern, denn oft fehlt ein Unrechtsbewusstsein. Machen Sie ihrem Kind ganz klar, dass bestimmte Grenzen, z.B. Versenden von Gewalt- und Pornobildern, nicht überschritten werden dürfen.
Kaufen Sie Ihren Kindern nur Handys, deren Funktionen Sie wirklich kennen und einschätzen können. Genügt zum Beispiel auch ein einfaches Gerät ohne Bluetooth-Funktion?
Lernen Sie die Handys ihrer Kinder beherrschen. Die Kinder geben oft sehr gerne „Nachhilfeunterricht“. Nur wer das Handy seines Kindes beherrscht, kann sich ein Bild über mögliche Gefährdungen seines Kindes machen. (red)
Handy und Recht
Strafbar macht sich, wer Minderjährigen vorsätzlich grausame Gewaltdarstellungen auf Bildern oder Filmen zugänglich macht. Bereits das Versenden von solchen gewaltverherrlichenden Bildern an Minderjährige ist strafbar. Unbefugte Aufnahmen von Personen in deren höchstpersönlichem Lebensbereich unter Verletzung ihrer Intimsphäre sind strafbar. Wer jemanden ohne Einverständnis etwa in der Umkleidekabine filmt, macht sich strafbar. Auch das Versenden an nur eine einzige Person ist nicht erlaubt. (red)