Das Genie spielt Geisterschach

HOCHBEGABTE KINDER

Das Genie spielt Geisterschach

Von Christoph Seidler

Experten schätzen, dass ein bis zwei Prozent aller Kinder in Deutschland hochbegabt sind. In manchen Fällen wird die Begabung zum Segen, in manchen zum Fluch. Spezielle Förderangebote sollen helfen, Probleme zu vermeiden.

Es gibt Tage, an denen steht das Telefon von Dorothea Karcher nicht still. Meistens sind das genau die Tage, an denen in den Medien wieder einmal über Hochbegabung bei Kindern berichtet wurde. Dann wenden sich besonders viele Eltern an die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind, an deren Beratungstelefon Frau Karcher sitzt.

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Nicht selten, so sagt sie, seien ihre Gesprächspartner am Anfang des Telefonats verunsichert. Weil sie wieder einmal von Freunden oder Verwandten zu hören bekommen haben: "Mit deinem Kind ist etwas nicht in Ordnung!" Dann soll der Anruf an der Hochbegabten-Hotline Klarheit schaffen. "Die Leute formulieren es wie eine Befürchtung: Kann es sein, dass mein Kind hochbegabt ist? Das klingt dann wie eine Krankheit", sagt Dorothea Karcher - und klingt dabei so, als sei sie mit dieser Einstellung ziemlich unglücklich.

Hochbegabung als Konjunkturthema

Zwischen ein und zwei Prozent aller Kinder sind hochbegabt, schätzt Karsten Otto vom Verein Hochbegabtenförderung. Zahlreiche dieser Kinder haben deswegen Probleme in Kindergarten und Schule. Weil sie sich konstant unterfordert und missverstanden fühlen, entwickeln sie Verhaltensauffälligkeiten.

Hochbegabung ist ein Konjunkturthema. Gern und häufig wird darüber gerichtet - gerade auch über gescheiterte Genies. Wie groß allerdings das Problem der Verhaltensauffälligkeiten tatsächlich ist, darüber streiten die Experten. Es gibt Statistiken, nach denen jedes fünfte Kind mit hohem IQ in der Regelschule scheitert. Langeweile und Unterforderung sind ebenso ein Problem wie Mobbing durch die Mitschüler.

Hochbegabte Kinder: Richtige Förderung ist wichtig


"Jeden Tag schleppen hochbegabte Schüler ihren Körper in die Schule, um ihn dort nur abzustellen", beklagte sich der Präsident des Weltverbandes für begabte Kinder, Den-Mo Tsai, auf einer Fachtagung im Winter. Allerdings sehen längst nicht alle Psychologen einen Zusammenhang zwischen Hochbegabung und Verhaltensproblemen. Sie sagen, dass Hochbegabte auch nicht öfter verhaltensauffällig werden als ganz normale Schüler.

Doch es gibt sie, die Hochbegabten mit Schulproblemen. Darüber besteht kein Zweifel. "Wenn es um eine verkorkste Schulkarriere geht, muss ein erfahrener Psychologe her", sagt Dorothea Karcher von der Gesellschaft für das hochbegabte Kind. Zahlreiche Vereine und Institutionen bieten Hilfe an. Auch an den Universitäten wie in Ulm und Rostock kümmern sich spezielle psychologische Beratungsstellen mittlerweile um verunsicherte Schüler, Eltern und Lehrer.

Spezialangebot für hochbegabte Schulversager

Ein weiteres interessantes Projekt gibt es in Offenbach: eine Schule für hochbegabte Schulversager. "Diese Kinder waren, um Hilfe zu bekommen, teilweise in Internaten, teilweise in psychiatrischen Anstalten. Teileweise gingen sie nicht zur Schule und bekamen häuslichen Sonderunterricht", erklärt Schulleiterin Anne Eckerle den Hintergrund ihrer Schützlinge.

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Das Betreuungsverhältnis hier ist einmalig: Auf einen Lehrer kommen an der Schule in Offenbach vier Schüler. Doch die intensive Betreuung - und eine gehörige Portion Nachsicht - sind auch nötig. Denn längst nicht alle Schüler kommen nach ihrer bisher mehr oder weniger leidensvollen Schulkarriere damit klar, wenn sie Anweisungen von einem Lehrer bekommen.

Bei all dem öffentlichen Interesse, dass Problemkindern mit Hochbegabung entgegengebracht wird, gerät eines schnell in Vergessenheit: Längst nicht in jedem Fall muss Hochbegabung zum Fluch für Kinder und Eltern werden. Wichtig ist vor allem gute Förderung.

Karsten Otto vom Verein Hochbegabtenförderung sieht zwei Schwerpunkte: Zum einen, sagt er, gehe es darum, die Kinder in Kindergarten und Schule zusätzlich noch auszulasten: "Sie müssen sich intellektuell austoben können." Zum anderen sei der Kontakt mit ähnlichen Kindern wichtig. "Statistisch ist ein hochbegabtes Kind nicht allein auf der Grundschule. Es gibt da noch mindestens ein anderes", macht Otto gestressten Eltern Mut.

Für solche Kinder - nötig ist der Nachweis eines IQs von mehr als 120 - bietet Ottos Verein bundesweit rund 120 Kurse an: "Wir bemühen uns, kein Schulwissen vorwegzunehmen." Sonst würden mögliche Schulprobleme der Hochbegabten durch die Kurse möglicherweise größer statt kleiner.

Naturwissenschaften sind bei den Treffen, die zwei Mal im Monat stattfinden ebenso Thema wie Sprachen: Wer will, kann in Gruppen von sieben Kindern Japanisch, Chinesisch oder Russisch lernen - jedenfalls wenn die Eltern den Monatsbeitrag von knapp 80 Euro locker machen können.

Um zusätzliche Förderung für Hochbegabte kümmert sich auch der Verein Bildung und Begabung. Er richtet die Deutschen Schülerakademien aus, zu denen sich jeden Sommer rund 900 Schüler aus den letzten beiden Jahrgängen vor dem Abitur treffen. Jeweils 15 bis 16 Teilnehmer, die 550 Euro Teilnahmegebühren zahlen müssen, sitzen in einem der Kurse.

Auch an den Schulen bleibt man nicht untätig

"Jede Schule, die zum Abitur führt kann pro Jahr ein bis zwei Kandidaten empfehlen", erklärt Harald Wagner, der sich mit der Organisation der Akademien befasst. Doch immer mehr Schulen dürften es bei der Auswahl der Kandidaten für die Schülerakademien einigermaßen schwer haben. Denn bundesweit gibt es eine stattliche Zahl an Bildungseinrichtungen, die sich speziell um Schüler mit besonderen Fähigkeiten kümmern. Genies sind dort unter sich.

Im Osten der Republik gibt es zum Beispiel ein Netz von neun Gymnasien, die aus den "Spezialschulen" der ehemaligen DDR hervorgegangen sind. Dort hatte man bereits in den Sechzigern damit begonnen, Talente zusätzlich auszubilden. Und dann gibt es noch Schulen wie das Sächsische Landesgymnasium St. Afra in Meißen und das baden-württembergische Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch-Gmünd.

Sie fördern Hochbegabte, zum Teil mit harten Regeln: So ist der Besuch des Internats in Schwäbisch-Gmünd verpflichtend, denn auch dort wird gebüffelt. Und so lernen Schülerinnen wie Julia Götz nicht nur Allerweltssprachen wie Englisch und Französisch. Außerdem stehen für die junge Frau in Schwäbisch Gmünd noch Arabisch, Griechisch und Chinesisch auf dem Programm, damit keine Langweile aufkommt.

Ihre Schulkollegin Lea Krämer verfolgt dasselbe Ziel übrigens beim "Geisterschach". Statt Bauern, Türmen, Springern und Läufern stehen auf ihrem Brett nur Mühlesteine - und die sind obendrein noch alle weiß. Lea kann die Figuren also nicht sehen, sondern muss sie sich in jeder Spielsituation merken, nur auf der Unterseite ist der Wert der Figur vermerkt.