Fachfrauen erklären: Wie behinderte Kinder wo lernen und sich entwickeln
04.04.2007 Fachfrauen erklären: Wie behinderte Kinder wo lernen und sich entwickeln können Wenn Sonja früh zur Schule geht, sind die Eltern erfreut



Bereits im Kindergarten beginnt die Förderung. In der Frühfördereinrichtung in der Meininger Landsberger Straße haben die Erzieherinnen dabei gute Erfahrungen gesammelt. Foto: Archiv/kd

Meiningen. Sonja ist ein Wunschkind. Ihre Eltern haben lange auf sie gewartet und sind überglücklich, dass sie das Licht der Welt erblickt hat. Doch bald stellte sich heraus: Die kleine Sonja ist anders als Kinder in ihrem Alter. Sie hört nicht gut. Ihre Eltern aber überlassen die Entwicklung ihres Kindes nicht dem Selbstlauf. Sie kümmern sich.


Zumal Sonja in diesem Jahr in die Schule kommt. In welche? Wo ist ihre optimale Entwicklung gewährleistet? Wie kann sie lernen, ohne ihre vertraute Umgebung verlassen zu müssen? Fragen über Fragen, die Kornelia Focke und Gesine Mädel als Beraterinnen für gemeinsamen Unterricht des Schulamtes Schmalkalden im Gespräch mit Kerstin Dressel beantworten.


Wie viele Kinder im Landkreis sind betroffen von Behinderungen?

Wir sprechen nicht von Kindern mit Behinderungen, sondern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Der ist bei Kindern und Jugendlichen gegeben, die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- oder Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht ausreichend gefördert werden können. Der Förderbedarf zeigt sich in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität. Wir unterscheiden in sieben sonderpädagogische Förderschwerpunkte: Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören und Sehen.

Im Schulamtsbereich Schmalkalden gibt es 1057 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und 27 Kinder, die die schulvorbereitende Einrichtung des Förderzentrum (FÖZ) „Anne Frank“ beziehungsweise das FÖZ in Suhl besuchen. Mit dem Blindeninstitut Bentheimschule in Schmalkalden sind 1105 Schüler sowie 32 Kinder in der schulvorbereitenden Einrichtung registriert. Das Einzugsgebiet der Schule ist deutschlandweit.

Welche Bildungsmöglichkeiten stehen den Kindern zur Verfügung?

Mit dem Thüringer Schulgesetz aus dem Jahr 2003 haben Eltern das Wahlrecht zwischen den generell zur Verfügung stehenden Schularten, Schulformen und Bildungsgängen. Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf können nicht nur an Förderzentren sondern auch im gemeinsamen – integrativen – Unterricht mit Unterstützung des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes (MSD) beschult werden. Sie lernen im gemeinsamen Unterricht mit Schülern der Grundschule und den zum Haupt- und Realschulabschluss, zum Abitur oder zu den Abschlüssen der berufsbildenden Schulen führenden Schularten. Zu beachten ist, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen und in der geistigen Entwicklung nach einem anderen Lehrplan, das heißt zieldifferent, unterrichtet werden.

Wo befinden sich entsprechende Förderzentren?

Im Schulamtsbereich Schmalkalden-Meiningen und der kreisfreien Stadt Suhl gibt es folgende Förderzentren: Staatliches regionales Förderzentrum Suhl mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hören;
Staatliches regionales Förderzentrum „Ludwig Bechstein“ in Schmalkalden mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hören.

Dem Förderschwerpunkt Lernen hat sich die Pestalozzischule – Staatliches regionales Förderzentrum in Meiningen verschrieben; dem Förderschwerpunkt Sprache das Staatliche regionale Förderzentrum „Anne Frank“ in Meiningen. Der Förderschwerpunkt geistige Entwicklung steht im Staatlichen regionalen Förderzentrum „Jean Paul“ in Meiningen, in der Pestalozzi-Schule Schmalkalden und der Dombergschule Suhl im Mittelpunkt. Genaue Angaben zu diesen Einrichtungen sind auf der Homepage des Staatlichen Schulamtes Schmalkalden zu finden.

Staatliche Förderzentren für die Förderschwerpunkte Hören und Sehen gibt es überregional in Erfurt (Hören) und in Weimar (Sehen). In Schmalkalden gibt es die Bentheim-Schule, ein Förderzentrum in freier Trägerschaft mit dem Förderschwerpunkt Sehen. Das Haus nimmt Schüler mit Mehrfachbehinderungen aus ganz Deutschland auf.

Wie ist der Erfolg in den verschiedenen Schuleinrichtungen? Kann sich ein Kind aus einer Förderschule später ganz normal entwickeln oder bleibt es dennoch „auf der Strecke“?

Diese Frage ist sehr vielschichtig und muss differenziert betrachtet werden: Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der körperlichen und motorischen, emotionalen und sozialen Entwicklung, Sprache, Hören und Sehen, die am Förderzentrum nach dem Lehrplan der Regelschule unterrichtet werden, beenden ihre Schulausbildung mit dem Haupt- beziehungsweise Regelschulabschluss genau wie Schüler an Haupt- und Regelschulen. Förderzentren sind aber auch als Durchgangsschulen zu sehen, wie zum Beispiel das FÖZ „Anne Frank“, bei dem Kinder zum Beispiel nach Beendigung der Grundschulzeit ab der 5. Klasse die Regelschule in ihrem Heimatort besuchen. Oder in den FÖZ Schmalkalden und Suhl, wo Kinder nach Besuch der Schuleingangsphase in die Grundschule ihres Wohnortes wechseln. Kinder, die im Bildungsgang zur Lernförderung beschult werden, erhalten nach neunjähriger Schulzeit darin auch einen Abschluss.

Gute Schüler haben die Möglichkeit, auf Antrag in einem zehnten freiwilligen Jahr einen dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Abschluss zu erlangen und eine Berufsausbildung zu beginnen oder das BVJ (Berufsvorbereitungsjahr) zu besuchen.

Kinder mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die im Bildungsgang zur individuellen Lebensbewältigung beschult werden, können das Förderzentrum bei Bedarf bis zum 21. Lebensjahr besuchen und arbeiten dann in einer geschützten Werkstatt.

Wie ist die Reaktion in „normalen“ Schulen, wenn dort auch Kinder mit „Behinderungen“ lernen? Gibt es Vorurteile?

Aus den bisherigen Erfahrungen gibt es keine negativen Reaktionen. Wichtig ist eine frühzeitige Information in den Elternabenden und die professionelle einfühlsame Arbeit der Pädagogen mit den Schülern. Beides wird in hoher Qualität geleistet.

Welche Kosten entstehen den Eltern durch eine gesonderte und besondere Förderung?

Den Eltern entstehen sowohl im gemeinsamen Unterricht als auch an Staatlichen Förderzentren keine Kosten für den Schülertransport und die Förderung.

Wer entscheidet, ob das Kind gesondert gefördert werden sollte? Und in welchem Alter wird das in der Regel festgestellt?

Förderschullehrer und Fachleute des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes erstellen eine Förderdiagnostik. In einer Kind-Umfeld-Analyse stellen sie fest, was das Kind kann. Die Ergebnisse beschreiben den aktuellen Entwicklungs- und Leistungsstand sowie die lern- und entwicklungsfördernden oder –hemmenden Faktoren. Die Beobachtungen in Kindertagesstätten oder Frühfördereinrichtungen, auch in der Schule sowie die Ergebnisse der Beratung mit den Eltern und gegebenenfalls mit anderen beteiligten Institutionen wie Schulärztlicher Dienst, Sonderpädagogische Zentren, Ärzte, Therapeuten sind Bestandteil der Förderdiagnostik. Das Ergebnis wird in einem sonderpädagogischen Gutachten festgehalten. Es legt Förderschwerpunkte fest und Förderansätze auf. Es wird mit den Eltern besprochen und ihnen ausgehändigt. Dabei beraten die Fachleute die Eltern über den Förderort und über die weitere Förderung des Kindes.

Die schulärztlichen Untersuchungen finden im Übrigen etwa anderthalb Jahre und nochmals zirka sechs Monate vor der Einschulung statt. Besteht zu diesem Zeitpunkt Bedarf, erhält das Kind unter anderem durch die mobile Frühförderung oder in integrativen Kindertagesstätten eine entsprechende Förderung. Auch an Förderzentren gibt es eine schulvorbereitende Einrichtung, in der betroffene Kinder auf das Lernen eingestimmt werden.