An der Hermann-Lietz-Schule Haubinda sprechen Jugendliche Recht
An der Hermann-Lietz-Schule Haubinda sprechen Jugendliche Recht Wenn das Klassenzimmer zum Gerichtssaal wird




VON REDAKTIONSMITGLIED ILGA GÄBLER
Eigentlich sind sie beste Freundinnen. Nun prügeln sie sich – so heftig, dass sie sich gegenseitig verletzen. Prellungen tragen sie davon, blaue Flecke, Kratzer... Über all die Blessuren, die der handfeste Streit hinterlässt, legen die Mädchen Atteste ihrer Hausärzte vor. Ein Fall für die Justiz ist das nicht – wohl aber einer für die Schülerrichter von Haubinda.

HAUBINDA/ERFURT – Seit nunmehr acht Jahren verwandelt sich immer mittwochs eines der Klassenzimmer der Haubindaer Hermann-Lietz-Schule im Landkreis Hildburghausen in einen Gerichtssaal. Die beiden jungen Richterinnen – leger mit Jeans und Pulli bekleidet – erheben sich von ihren Stühlen. Sie eröffnen die Verhandlung. Das Geplapper auf den Zuhörerrängen verstummt. Kaum einer passt noch in den Raum. Manchmal sei sogar eine Eintrittskarte nötig, erzählen Schüler. Linkerhand haben die Ankläger Platz genommen, rechts der Verteidiger und der Beschuldigte. Es läuft das gleiche Ritual ab, wie vor einem echten Gericht. Zeugen werden gehört. Auch Lehrer haben zu erscheinen, wenn sie von den Schülerrichtern dazu aufgefordert werden. Meist dauert eine Verhandlung 20 Minuten. Und manchmal wird sie auch mehrfach vertagt – wie im Fall der streitsüchtigen „besten Freundinnen“.

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Ein eigener kleiner
Schulstaat

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Die 360 Schüler von Haubinda regeln in großer Eigenregie ihr Zusammenleben. Als gleichberechtigte „Heimbürger“ – Lehrer und technische Mitarbeiter eingeschlossen – bevölkern sie einen 70 Hektar umfassenden kleinen Schulstaat. „Wir leben gemeinsam Demokratie. Da hat nicht immer der Schulleiter Recht. Ich möchte junge Leute erziehen, die später Eigenverantwortung übernehmen, selbstbewusste und aktive Mitglieder der Gesellschaft sind“, sagt Burkhard Werner, der Leiter der Privatschule in Haubinda. Dort funktioniert Demokratie über ein Ober- und Unterhaus, einen Kanzler, der von allen gewählt wird und über ein Schülergericht.

Vor dessen Schranken gerät der, der über die Stränge der Schulverfassung schlägt und die dort festgeschriebenen Bürgerrechte und -pflichten verletzt. Gewiss, derlei Regeln sind eine der Ausnahmen in Thüringens Schullandschaft.

Keine Ausnahmen aber dürften die Schüler sein. Sie kommen nicht öfter mit dem Gesetz in Konflikt als junge Leute anderswo. Die Bandbreite reiche von Grundschülern, über Haupt- und Regelschüler bis hin zu Fachoberschülern, zählt Sozialkunde- und Geschichtslehrer Stefan Müller auf. Er hatte die Idee vom Schülergericht mit nach Haubinda gebracht.

Zum dortigen 14-köpfigen Gerichtskolleg gehören schon seit längerem die Zwillingsschwestern Benigna und Erdmuth Meussling, Gabor Bamberger und Lisa Kadow – alle Schüler der zehnten Klasse. Mobbing, Prügelei, Diebstahl, Schulschwänzen, Alkoholmissbrauch – so lauten die Delikte, die auf dem Richtertisch landen. Einmal hatten Schüler Softair-Waffen mit auf einen Ausflug genommen. Auch das ein Fall fürs Schülergericht. „Unerlaubter Waffenbesitz und Schädigung des Rufs der Schule in der Öffentlichkeit“, hieß der Vorwurf.

Wer allerdings Drogen schluckt, erhält nicht mal die Chance einer Gerichtsverhandlung. „Der darf sofort die Koffer packen“, erzählt Gabor Bamberger. Die Empfehlung für einen Rausschmiss ist auch die höchste Strafe, die die Schülerrichter verhängen. „Vier Mal geschah das seit 1998“, erinnert sich Lehrer Stefan Müller. Gnade kann dann nur der Schulleiter walten lassen, ansonsten sind die Urteile für alle – Schüler und Lehrer – bindend. So steht’s in der Schulordnung. Und die haben auch die Eltern per Erziehungsvertrag anerkannt.

Am Ende muss aber der Schulleiter sein Okay unters Urteil setzen. „Zwei Mal hat er bisher von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht“, berichten die vier Richter. „Dafür muss er aber triftige Gründe haben.“ Gabor Bamberger erläutert, wie man Juniorrichter wird: „Du musst ab der 8. Klasse Sozialkunde haben und die Gesetze verstehen. Zuvor bist du ,Lehrling‘, schaust dir an, wie’s die Älteren machen.“ Und Lehrer Müller fügt hinzu: „Die Richter müssen freilich eine weiße Weste haben und dürfen nicht vorbestraft sein.“

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Ohne Führerschein
hinterm Lenkrad

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Knapp 200 Kilometer vom Haubindaer Schulstaat entfernt waltet ein zweites Schülergericht seines Amtes – im unterfränkischen Aschaffenburg. Unterstützt vom bayerischen Justizministerium wurde es im Jahr 2000 ins Leben gerufen und hat bis dato 300 bis 350 Mal Recht gesprochen. „Die Verfahren nehmen zu, mittlerweile sind es 90 im Jahr“, resümiert Birgit Heine, die das „Kriminalpädagogische Schülerprojekt“ betreut. Sein Einzugsbereich umfasst allerdings die ganze Stadt und das Umland. Die Delinquenten haben Altersgefährten erpresst, gehascht, im Laden eine CD mitgehen lassen oder hinterm Lenkrad gesessen, ohne einen Führerschein zu haben. Der Jugendstaatsanwalt entscheidet, ob daraus ein Fall für die Juniorrichter wird oder nicht. Und noch etwas ist in Aschaffenburg anders als in Haubinda. „Es gibt keinen Gerichtssaal, vielmehr treffen sich gleichberechtigte Partner zu einer Gesprächsrunde“, ergänzt Heine.

Sie verfolgt Rede und Gegenrede, mischt sich aber nicht ein. Die Diplomsozialpädagogin erklärt, warum: „Um den Beschuldigten wieder auf den rechten Weg zu bringen, wollen wir erfahren, was hinter der Tat steckt und warum es dazu kam.“ An drei Wochenenden werden die Richter in Turnschuhen auf ihre Aufgabe vorbereitet: von Pädagogen, Psychologen und vom Jugendstaatsanwalt.

Alle zwei Jahre wechselt altersbedingt die Gruppe. „Beim letzten Mal hatten wir 100 Bewerber auf 16 Plätze“, berichtet die Sozialpädagogin. Am schwierigsten sei es jedoch, für jeden Täter die passende, erzieherisch wirksame Strafe zu finden, meint sie. Die Palette ist groß. Sie reicht von Sozialarbeit, kleinen Geldzahlungen bis 20 Euro, Besinnungsaufsätzen, über Abwaschen und Vorlesen im Altenheim bis zum Verfassen eines Gedichtes. „Die Sanktion soll immer einen Bezug zur Tat haben“, sagt Heine.

Ein Anspruch, den sich auch die Schülerrichter im thüringischen Haubinda stellen. Für sie kann eine Sanktion ebenso ein Handy-Verbot, das Schrubben der Schulflure oder eine öffentliche Entschuldigung sein. Aber meist wird das zum Nebenschauplatz. Es ist schon heilsam, wenn in aller Öffentlichkeit über den „verbockten Mist“ diskutiert wird. Dennoch, das Urteil der Schülerrichter zählt unter Gleichaltrigen. Auch wenn sie ab und an dumme Sprüche zu hören kriegen, ihre Entscheidung wird akzeptiert. Woran das liegt? „Die Jugendlichen begegnen sich auf Augenhöhe und finden untereinander besser den richtigen Ton“, sagt Müller.

Und beide lernen voneinander: Laien-Juristen und Angeklagte. „Du musst als Richter Stellung beziehen, kannst dich nicht einfach in die Masse zurückziehen“, beschreibt es eine der Meussling-Zwillinge, die für Außenstehende so schwer zu unterscheiden sind. Das kann Birgit Heine aus Aschaffenburg nur bestätigen. „Die Schülerrichter legen Vorurteile ab, hören zu und schätzen mehr ihr eigenes Glück.“ Von den Beschuldigten nehmen andererseits 98 Prozent die Möglichkeit des Schülergerichts wahr. Trotzdem sind die Richter in Turnschuhen oder Teen-Courts – wie man sie in den USA nennt – umstritten. In Hessen oder Sachsen laufen ähnliche Projekte wie im bayerischen Aschaffenburg. „In Sachsen-Anhalt und in Thüringen interessiert man sich ebenfalls für uns“, weiß Birgit Heine.

Eine größere Chance will jetzt auch die Thüringer SPD-Landtagsfraktion den Schülergerichten geben. Heute hat sie zu einer Expertenanhörung eingeladen und ihr justizpolitischer Sprecher, Uwe Höhn, kündigt eine parlamentarische Initiative zu den Schülergerichten nach der Sommerpause an. Sie sollen Eingang in ein eigenständiges, vom Bundesverfassungsgericht gefordertes Jugendstrafvollzugsgesetz finden. „Wir müssen über die Prävention im Jugendstrafvollzug neu nachdenken. Schülergerichte können den Erziehungseffekt zwischen den Jugendlichen befördern. Darauf sollten wir setzen, bevor die große Keule geschwungen wird“, meint Höhn.

Stefan Müller ließ sich seine Vision nicht nehmen. Heute leben sie seine Schüler. Er wünscht sich von ihnen: „Sie sollen bei einer Prügelei nicht johlend daneben stehen, die Streithähne anfeuern oder gar wegschauen. Wenn das Schülergericht da etwas bewirkt, ist viel gekonnt.“

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