Zur bildungspolitischen Ausrichtung der AfD Thüringen – Eine Nachlese zum Facebook-Text der AfD Thüringen vom 29.09.2019 (07:10 Uhr)

Am 29. September 2019, nur einen Tag nach dem 39. Landeselterntag, veröffentlichte die Thüringer AfD ihre bildungspolitischen Vorstellungen. Hatte man sich tags zuvor noch recht versöhnlich gegeben, so brach sich nun rückwärtsgewandtes Denken in einer Flut an unbelegten Behauptungen Bahn. Im Nachfeld des Landeselterntages sehen wir uns darum zu einer Stellungnahme veranlasst.

»Nachlassende Studierfähigkeit«

Die AfD beklagt eine »nachlassende Studierfähigkeit«, die darin münde, dass Universitäten und Unternehmen »Nachhilfekurse organisieren (müssen), um die Bildungslücken junger Studenten und Azubis zu flicken.«

Wer so argumentiert, ist irgendwo zwischen Mitte und Ende der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts stehen geblieben. Computertechnik und Vernetzung haben die Wirtschaft fast vollständig durchdrungen. Wissen, das sich Generationen an Schülern mühevoll aus Büchern aneignen und eintrichtern mussten, ist heute jederzeit und fast überall aus dem Internet abrufbar. Alle dreieinhalb Jahre versiebenfacht sich das verfügbare Wissen der Menschheit! Was sollen also junge Menschen in Schule alles lernen, um in weit über 300 anerkannten Ausbildungsberufen und Tausenden Studienmöglichkeiten erfolgreich zu starten? Sind die erforderlichen Qualifikationen überall die gleichen oder gibt es Unterschiede? Sollen Auszubildende mehr naturwissenschaftliche oder geisteswissenschaftliche Qualifikationen besitzen? Bereitet Schule eher auf den Einstieg als Industriearbeiter oder auf den Einstieg in eine sich stetig ändernde Berufswelt vor?

Diese und viele andere Fragen müssen sich verantwortliche und verantwortungsbewusste Bildungswissenschaftler und -Praktiker im Thüringen der frühen 1990er-Jahre auch gestellt haben. Das Ergebnis war ein Umstellen des qualifikationsbasierten Bildungsansatzes auf einen kompetenzorientierten, ohne die Qualifikationen, also abrufbereites Wissen und Fertigkeiten, ganz aus dem Blickfeld zu lassen. Das ist mit Blick auf die sich stetig veränderten Berufsbiografien durchaus sinnvoll. Es ist eben nicht mehr üblich, zwischen 16 und 65 in ein und demselben Unternehmen am Fließband zu stehen.

Wer in seinem Beschäftigungsleben mehrfach die berufliche Perspektive wechseln wird, dem ist nicht geholfen, wenn er nur über festgeschriebene Qualifikationen verfügt. Derjenige muss auch in der Lage sein, sich selbst weiterzubilden und zu qualifizieren. Dafür soll ihm Schule heute auch das Rüstzeug geben.

Unstrittig ist dabei, dass es bei den Kulturtechniken im Lesen, Schreiben und Rechnen keine Abstriche geben darf. Junge Menschen lernen heute anders, jedoch nicht weniger.

»Frühsexualisierung«

Beim Thema »Frühsexualisierung« greift man in Ermangelung wissenschaftlicher Quellen auf die Seite eines klerikalen Anbieters zurück. Der Anschein der Seriosität soll somit gewahrt bleiben. Darkrooms und Sado-Maso-Sex sollen das dramatische Bild denn nur verfestigen. Von Tatsachen ist man meilenweit entfernt. Es reicht der erzeugte Skandal.

Wem es beim Zitat des »Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre« die Zornesröte ins Gesicht treibt, weil »durch die Unterscheidung von Jungen und Mädchen Begrenzungen entstehen und Potentiale eingeengt würden«, der möge den Thüringer Bildungsplan bitte genau lesen. Übrigens nicht zwischen Seite 28-30, wie unzutreffend zitiert, sondern ab Seite 26.

Das kritisierte Zitat greift Geschlechterrollen auf, wie wir sie alle kennen: Mädchen wählen pinke Sachen, Jungs die blauen. Dass dadurch Begrenzungen entstehen und Potentiale eingeengt werden könnten, sollte nur dem engstirnigsten Zeitgenossen sauer aufstoßen. Im Heute lösen wir uns langsam von geschlechterspezifischen Rollenverteilungen: Mädchen werden zum Beispiel beste Mechatronikerinnen, wenn sie ihre Potentiale frei von stereotypen Geschlechterrollen entfalten können. Wollen wir ihnen das verwehren?

»Qualitätsverlust an Bildung«

Das Beklagen eines Qualitätsverlustes an Bildung im Zusammenhang mit Abiturquoten von 50 Prozent und höher darf, auf Thüringen bezogen, als rein spekulativ bewertet werden. Es gibt schlichtweg zu wenige Thüringer Regionen, in denen überhaupt 50 Prozent oder mehr Schülerinnen und Schüler an das Gymnasium als weiterführende Schule wechseln. Die zur Untermauerung der These aufgeführten Quellen stellen dabei lediglich Meinungen dar und keine Fakten.

Hätten die Verfasser dieses bildungspolitischen Machwerks doch nur einmal die PISA- Studien gelesen, derer sie sich zur Scheinargumentation bedienen. Diese belegen für Deutschland sehr deutlich, dass die soziale Herkunft auch heute noch einen wesentlichen Einfluss auf den Bildungsweg junger Menschen in Deutschland hat. Eine Rückkehr zur strengen Auswahl würde die Bildungs- und Aufstiegschancen junger Menschen dramatisch verschlechtern und ist mit unserem Verständnis von Bildungs- und sozialer Gerechtigkeit nicht vereinbar.

Die wirklichen Probleme

Thüringen steht vor den gleichen Herausforderungen wie viele andere Bundesländer: Lehrermangel, Sanierungsstau an Schulen, mangelhafte digitale Ausstattung, Schulen als soziale Brennpunkte und Schuldistanz sind nur einige der Schlagwörter, die einem kritischen Betrachter einfallen. Doch dazu vermissen wir im AfD-Papier wegweisende Visionen.

Im Gegenteil: Etablierte Bildungseinrichtungen wie die MINT-Spezialschulen bzw. -Klassen, die auch unter aktuellen Bedingungen hervorragende Arbeit leisten, werden von der AfD in ihrem Wahlprogramm wohl nicht als erhaltenswert eingeschätzt … oder glatt vergessen. Ein Schelm, wer Böses denkt.

Moderne Bildung gestaltet man nicht mit einer Bildungsromantik à la Feuerzangenbowle. Wer sich gedanklich noch irgendwo im vergangenen Jahrhundert befindet, wird das laufende kaum erfolgreich gestalten können.