Ganztagsschule aus der Elternperspektive – Fluch oder Segen?

27.02.2017 – Claudia Martins Cavaco, Landeselternvertretung Thüringen  für  die tz – thüringer zeitschrift der Bildungsgewerkschaft – Februar 2017

Die Erwerbs- und Familienstruktur unserer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Heute ist es glücklicherweise gesellschaftliche Normalität, dass beide Elternteile erwerbstätig sein können. Die Familienkonstellationen haben sich verändert und die Quote an Alleinerziehenden ist stark gestiegen.

Gleichzeitig finden sich, durch rigide Sparpolitik, in vielen Regionen keine ausreichenden soziokulturellen Infrastrukturen wie Freizeit- Spiel- und Kulturangeboten, die eine qualitative Förderung der Lern und
sozialen Kontaktchancen der Kinder und Jugendlichen ermöglicht. Unter diesen Aspekten können Ganztagsschulen die Lösung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für die Versorgung mit
Lern- und Freitzeitmöglichkeiten darstellen. Im optimalen Fall könnten Ganztagschulen die Teilhabechancen von Familien verbessern, gleichzeitig bestehende Bildungsbenachteiligung abbauen und somit gesellschaftlich integrierend wirken.

Wenn Ganztagsschulen (GTS) diese Erwartung erfüllen wollen, dann ist es aus der Sicht der Landeselternvertretung nicht ausreichend, dass Halbtagsschulsystem lediglich um einigen Nachmittagsangeboten ergänzt wird.

Eine gelungene Ganztagsschule bedarf, aus Sicht der Eltern, folgender Bedingungen:

  1. Eine GTS muss mit einem pädagogischen Konzept verbunden werden. Die Ausarbeitung eines solchen pädagogischen Konzeptes, sollte für alle Schulen, die sich auf den Weg zur Ganztagsschule machen, verbindlich sein. Nur so kann der Ausbau der Ganztagsschulen eine nachhaltige qualitative Veränderung von Schule mit sich bringen und die Familien entlasten.
  2. Eine erfolgreiche GTS erfordert eine regelmäßige Teilnahme der Schüler*innen an den Angeboten. Dafür ist die konzeptionelle Verzahnung von Angebot und Unterricht entscheidend. Ein gelungenes Rhythmisierungskonzept, bei dem sich Unterricht und außerunterrichtliche Angebote über den Tag verteilt abwechseln, hilft, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Schüler* innen einzugehen. Die neue Schulkultur, die gute Ganztagsschulen ausmacht, stellt neue didaktisch und organisatorisch Anforderungen an die Lehrkräfte: Wird der Schulalltag rhythmisiert und sind die Lehrer*innen an der Gestaltung der außerunterrichtlichen Angebote beteiligt, dann bedeutet das eine Veränderung der pädagogischen Arbeit in vielfacher Hinsicht. Damit Lehrer*innen ihrer Rolle als Fachlehrer*innen, Erzieher*innen und Kooperationspartner gerecht werden können, brauchen sie vor allem eines: Zeit. Dies erfordert ein verändertes Arbeitszeitmodell, welches sich nicht mehr ausschließlich an den erteilenden Unterrichtsstunden orientiert.
  3. In einer Ganztagsschule müssen Lehrer*innen für die Erfüllung ihres Bildungsauftrags, der weit über die Vermittlung von Fachkompetenzen hinausgeht, Kooperation und Teamarbeit mit externen Kooperationspartnern eingehen, um sinnvoll entlastet zu werden. Eine gelungene Ganztagsschule erfordert die Öffnung der Schulen für weitere Kooperationspartner. Das Ganztagsangebot wird nicht nur von der Schule, sondern auch von externen Kooperationspartnern gestaltet. Dies sind z. B. Sportvereine, Jugendverbände, Musikschulen, Jugendfreizeiteinrichtungen oder auch privatgewerbliche Organisationen und natürlich wir Eltern. Eine solche Zusammenarbeit, die durchaus von unterschiedlichen Interessen oder pädagogischen Vorstellungen geleitet werden kann, ist nicht immer einfach. Die Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartnern sollte klar strukturiert und in dem Konzept verankert werden, um eine Kooperation auf Augenhöhe zu garantieren.
  4. Beim Ausbau einer Schule zur GTS muss jede Schule vor Ort mit eigenen Rahmenbedingungen umgehen, die es bei der Schulentwicklung zu berücksichtigen gilt, denn gegen sie lässt sich gute Schule nicht machen. Sie müssen bei Einführung und Ausbau der Ganztagsschule einbezogen werden und über eigene Gestaltungsspielräume verfügen. In der Konsequenz ist ein schrittweiser Ausbau des Ganztagsschulangebots – von der offenen über die teilgebundene zur gebundenen Form – manchmal erfolgversprechender als der erzwungene Einstieg in ein volles Ganztagsschulprogramm. Aber auch wenn sich die Entwicklung der Ganztagsschule an die Bedingungen vor Ort anpassen muss, muss nicht jede Schule bei der Gestaltung ihres Konzepts das Rad neu erfinden: Es gibt genügend Beispiele guter Ganztagsschulen, der Aufbau von Netzwerken gewinnt somit an Bedeutung.

Gelingensbedingungen für die Ganztagsschule sind aus Elternsicht: Zeit, Raum und die Öffnung der Schule.

Diese Riesenaufgabe kann nur von Bund und Ländern gemeinsam bewältigt werden. Hier ist die Politik gefragt. Für inklusives Lernen gibt es heute bereits einen Rechtsanspruch. Warum sollte dies in absehbarer Zeit nicht auch für die Ganztagsschule gelten? Der volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Nutzen liegt auf der Hand.